Lügner-Paradox

Lügner-Paradox

Ein Lügner-Paradox ist ein Paradoxon, das entsteht, wenn ein Satz seine eigene Falschheit oder Nicht-Entscheidbarkeit behauptet. Wenn der Satz gilt, so folgt durch die Selbstreferenzialität, dass er falsch (oder unentscheidbar) ist. Gilt der Satz nicht, so sollte das, was er aussagt, nicht der Fall sein, der Satz sollte also wahr sein.

Inhaltsverzeichnis

Historische Form

Die traditionelle Fassung des Lügner-Paradoxons stammt von Eubulides (Mitte des 4. Jh. v. Chr.) und hat die Form eines Dialogs, der zu einer Antinomie führt:[1]

„Wenn ich lügend sage, dass ich lüge, lüge ich oder sage ich Wahres?“

„Du sagst Wahres.“
„Wenn ich Wahres sage und sage, dass ich lüge, lüge ich.“
„Du lügst offenbar.“

Dieser Dialog zeigt bereits das Paradoxon: Jemand lügt, indem er die Wahrheit sagt und sagt die Wahrheit, indem er lügt. Zu dieser Form können jedoch verschiedene Auswege gesucht werden, in dem unterstellt wird, dass die in der Frage indirekt angeführten Aussagen (Lügend sage ich, ich lüge) nicht selbstbezüglich sind, sondern nur für Fälle zulässig sind, die sich auf dritte Aussagen beziehen (Ich log, als ich sagte, ich log, als ich sagte, dass p). In dieser Formulierung ist das Paradoxon ein Problem, das die Intension der Aussage betrifft, insbesondere die Frage, ob es sich um eine wohlgeformte Aussage handelt und wie mit dem opaken Kontext umzugehen ist.

Klassische Formulierung

Varianten dieser Lügner-Antinomie wurden durch die ganze Logikgeschichte hindurch diskutiert. In der modernen mathematischen Logik gewann sie neu an Bedeutung durch Bertrand Russell, der den paradoxen Satz folgendermaßen formulierte:

A man says: I am lying. -Ein Mann sagt: Ich lüge gerade.[2]

In der Moderne wird das Paradoxon des Lügners seit Russell vordatiert und Epimenides (6. Jh. v. Chr.) zugeschrieben, daher auch der Beiname Paradoxon des Epimenides. Russell gibt es in der folgenden Form wieder, die die Wohlgeformheit nicht in Frage stellt, da sie sich in moderner Prädikatenlogik ausdrücken lässt und das Problem auf eine mögliche Russellsche Antinomie verschiebt:

Epimenides der Kreter sagte: Alle Kreter sind Lügner.[3][4]

Als Lügner ist hier eine Klasse von Personen gemeint, die grundsätzlich immer lügen, d.h. deren Aussagen den Wahrheitswert "Das Falsche" haben. Epimenides trifft nun die Aussage, dass alle Angehörige der Klasse "Kreter" auch Angehörige der Klasse "Lügner" sind, aber Epimenides gehört selbst der Klasse der Kreter an. In der Prädikatenlogik ist dieses Satzgefüge nicht paradox, da hier gilt, dass die Negation der Aussage „Alle Kreter sind Lügner“ die Aussage „Manche Kreter sind keine Lügner“ ist. Es ergibt sich also eine konsistente Interpretation, wenn man annimmt, dass Epimenides lügt, aber nicht alle Kreter Lügner sind. Ein hartes Paradoxon ergibt sich aber mit der Zusatzannahme, dass entweder alle Kreter lügen oder alle Kreter die Wahrheit sagen: Dann ist nicht mehr entscheidbar, ob Epimenides lügt oder die Wahrheit sagt - nimmt man das eine an, so folgt das andere. Bertrand Russell betrachtete die in seinem Sinn äquivalente Aussage „Alle von Kretern getätigten Aussagen sind Lügen“ stellte fest, dass diese Aussage nicht sinnvoll von einem Kreter selbst getätigt werden kann, da der Ausdruck „Alle von Kretern getätigte Aussagen“ aus dem Mund eines Kreters keine eindeutig feststellbare Bedeutung hat und daher nicht zulässig ist.[5]

Problematik

Die moderne Diskussion dreht sich daher um eindeutig selbst-referentielle Aussagen, die unentscheidbar sind, oder sich selbst in einem mehrschrittigen Kalkül bei jedem neuen Schritt einen anderen Wahrheitswert zuweisen, z.B.:

Diese Aussage ist falsch.

oder

  1. Aussage Nr. 1 ist falsch.

Die Aussage „Ich lüge immer.“, die eindeutig falsch ist, ist nicht zu verwechseln mit der Äußerung von „Ich lüge gerade mit dieser Äußerung.“, die keine Aussage darstellt, da sie keine wahre oder falsche Proposition äußert und keine Aussage über die Wirklichkeit trifft.

Eine Kurzform des Lügners stellt den Selbstbezug durch das Demonstrativpronomen „dieser“ her:

Dieser Satz ist falsch.

Die Paradoxie ergibt sich hier so: Angenommen, der Satz ist falsch. Dies behauptet aber der Satz genau, er ist also wahr im Widerspruch zur Annahme. Angenommen aber, der Satz ist wahr. Dann gilt seine Behauptung, und er ist falsch im Widerspruch zur zweiten Annahme. In der klassischen Logik ist aber jede Aussage entweder wahr oder falsch. In beiden möglichen Fällen ergibt sich jedoch ein Widerspruch, d. h. der Satz ist paradox.

Eine entsprechende Paradoxie erzeugt offenbar auch eine Variante, die einen direkten Selbstbezug umgeht:

Der nächste Satz ist falsch. Der vorhergehende Satz ist wahr.
Siehe auch: Referenzproblem

Typentheoretische Umgehung

Bertrand Russell hat in seiner Typentheorie eine Lösung vorgeschlagen, die allerdings nur für formale Sprachen konsequent durchführbar ist. Ihr Grundgedanke ist, dass es eine Hierarchie von Aussagen und eine Hierarchie von Wahrheitsprädikaten gibt, nämlich Aussagen der Ordnung n und Wahrheitsprädikate der Ordnung n (für n=0, 1, 2, ....). Ein Wahrheitsprädikat der Ordnung n darf nur von einer Aussage mit Ordnung kleiner n ausgesagt werden.[6] Er löste also das Paradoxon in Analogie zur Russellschen Antinomie, indem er selbstbezügliche Aussagen syntaktisch ausschloss. Diese Lösung fand Nachfolger, etwa in Tarskis Wahrheitstheorie, ist aber auch umstritten, da das Verbot selbstbezüglicher Sätze den Sprachreichtum gängiger Logiken und der Verbalsprache stark einschränkt.

Trivia

Kritik durch Wittgenstein

Wittgenstein monierte, dass sich das Lügner-Paradox nur um sich selber drehe und darüber hinaus keine außerphilosophische Dimension aufweise:

„In gewisser Weise ist es sehr merkwürdig, daß sich jemals einer den Kopf darüber zerbrochen hat. Es ist viel ungewöhnlicher, als man vielleicht glaubt, daß sich die Menschen über so etwas bekümmern, denn die Sache funktioniert so: Wenn jemand sagt „Ich lüge“, so erwidern wir, daß er nicht lüge, woraus folgt, daß er wohl lügt, und so fort. Na und? Man kann auf diese Weise fortfahren, bis man schwarz wird. Und warum auch nicht? Es macht doch nichts.“

[7]

Das Lügner-Paradoxon in der Populärkultur

Das Lügner-Paradoxon erfreut sich insbesondere wegen seiner Bezüge zur formalen Logik gerade bei Science-Fiction Autoren einiger Beliebtheit. Ein häufiges Motiv ist die Überwindung einer übermächtigen Künstlichen Intelligenz durch die Konfrontation mit dem Paradoxon, die zu einer unendlichen Berechnungsschleife führen soll.[8]

Einzelnachweise

  1. Rekonstruktion aus spätantiken Quellen in: Rüstow, A.: Der Lügner, S. 40. Zitat griechisch, oben übersetzt
  2. Russell: Mathematical logic as based on the theory of types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), Seite 222.
  3. “Epimenides the Cretan said that all Cretans were liars, and all other statements made by Cretans were certainly lies. Was this a lie?” (Bertrand Russell: Mathematical logic as based on the theory of types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), Seite 222., deutsch: „Epimenides der Kreter sagte, dass alle Kreter Lügner wären, und dass alle anderen Behauptungen von Kretern sicher Lügen wären. War dies eine Lüge?“)
  4. Vgl. auch Russell/Whitehead: Principia Mathematica, Band I (1910), Seite 63
  5. Russell: Mathematical logic as based on the theory of types, in: American Journal of Mathematics 30 (1908), Seite 224.
  6. Russell/Whitehead: Principia Mathematica, 1910, Kap. II,VIII The Contradictions (1) mit Lösung zu (1) [ http://quod.lib.umich.edu/u/umhistmath/aat3201.0001.001/87?view=pdf S. 65]
  7. Ray Monk: Wittgenstein. Das Handwerk des Genies. Übersetzt von Hans Günter Holl und Eberhard Rathgeb. Stuttgart: Klett-Cotta 1992. S. 444.
  8. Artikel Logic Bomb auf TVTropes.org

Literatur

  • Rüstow, Alexander: Der Lügner. Theorie, Geschichte und Auflösung, Leipzig 1910
  • William C. Kneale. Russell's Paradox and Some Others, in: The British Journal for the Philosophy of Science, Vol. 22, No. 4 (Nov., 1971), S. 321-338 auf JSTOR

Weblinks


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