Kopernikanische Wende

Kopernikanische Wende
Ein Bild des 19. Jahrhunderts, wie der Mensch angeblich das Ende des mittelalterlichen Weltbildes durch die Kopernikanische Wende erfuhr: Camille Flammarions Holzstich aus seinem L'Atmosphère: Météorologie Populaire (Paris, 1888), S. 163

Unter der Kopernikanischen Wende versteht man zweierlei: Zum einen den Paradigmenwechsel, der sich in den Naturwissenschaften mit dem Schritt vom geo- zum heliozentrischen Weltbild vollzogen haben soll. Er wird an die Veröffentlichungen von Nicolaus Copernicus gekoppelt, in denen dieser mit dem Ptolomäischen Weltbild bricht und vorschlägt, ein mathematisch exaktes kosmologisches Modell zu verwenden. Zweitens wird von einer Wende Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft (11781/ ²1787) gesprochen, die Kant dort für die Metaphysik vorschlägt. Im übertragenen Sinne taucht die Wortfügung heute auf verschiedensten Gebieten auf, um einen Wechsel impliziter oder expliziter allgemeiner Voraussetzungen zu bezeichnen.

Der Begriff ist in beiden Fügungen prekär: In Anwendung auf Kopernikus, da er (mittlerweile erfolgreich) unterstellt, der Schritt vom geo- zum heliozentrischen Weltbild habe sich als mentale Revolution ereignet und einen Paradigmen- und Epochenwechsel herbeigeführt; in Anwendung auf Kant, da er sich wörtlich in Kants Schriften nicht findet. Erst in der Rezeption der Kritik der reinen Vernunft wurden die dortigen Ausführungen zu Kopernikus, den Naturwissenschaften, und einer zu vollziehenden „Umänderung der Denkart“ bis an den Punkt zusammengezogen, an dem das Sprechen von der „Kopernikanischen Wende“ zum Synonym des Umbruchs vom Mittelalter in die Neuzeit wurde. Zugleich bestand eine Kontroverse darüber, worin diese Umänderung bei Kant in Bezug auf die Metaphysik besteht.

Kants „Umänderung der Denkart“

Die zentrale Passage zur angestrebten „Umänderung der Denkart“ findet sich in der Vorrede zur zweiten Auflage vom Kants Kritik der reinen Vernunft. Kant führt darin aus, die Metaphysik sei methodisch hinter Mathematik, Logik und Naturwissenschaft zurückgeblieben, die sich durch das Auffinden von Vernunftprinzipien zu systematischen Wissenschaften entwickelt hätten. Insbesondere die Naturwissenschaft habe begonnen, Thesen aufzustellen und durch Experimente zu überprüfen und so eine andere Perspektive auf die Natur gewonnen. Ähnlich müsse die Metaphysik die Annahme aufgeben, die menschliche Erkenntnis richtete sich völlig nach den Gegenständen. Als „Umänderung der Denkart“ empfiehlt er versuchsweise einmal davon auszugehen, dass sich die Gegenstände nach der Erkenntnis richten, so die Formulierung, die Empirismus als Lehre der Erkenntnis dem Idealismus als philosophischer Option unterordnet. Hier die vollständige Passage:

„Ich sollte meinen, die Beispiele der Mathematik und Naturwissenschaft, die durch eine auf einmal zustande gebrachte Revolution das geworden sind, was sie jetzt sind, wäre merkwürdig genug, um dem wesentlichen Stücke der Umänderung der Denkart, die ihnen so vorteilhaft geworden ist, nachzusinnen, und ihnen, soviel ihre Analogie, als Vernunfterkenntnisse, mit der Metaphysik verstattet, hierin wenigstens zum Versuche nachzuahmen. Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten, aber alle Versuche über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ. In der Metaphysik kann man nun, was die Anschauung der Gegenstände betrifft, es auf ähnliche Weise versuchen. Wenn die Anschauung sich nach der Beschaffenheit der Gegenstände richten müßte, so sehe ich nicht ein, wie man a priori von ihr etwas wissen könne; richtet sich aber der Gegenstand (als Objekt der Sinne) nach der Beschaffenheit unseres Anschauungsvermögens, so kann ich mir diese Möglichkeit ganz wohl vorstellen. Weil ich aber bei diesen Anschauungen, wenn sie Erkenntnisse werden sollen, nicht stehen bleiben kann, sondern sie als Vorstellungen auf irgend etwas als Gegenstand beziehen und diesen durch jene bestimmen muß, so kann ich entweder annehmen, die Begriffe, wodurch ich diese Bestimmung zustande bringe, richten sich auch nach dem Gegenstande, und dann bin ich wiederum in derselben Verlegenheit, wegen der Art, wie ich a priori hiervon etwas wissen könne; oder ich nehme an, die Gegenstände oder, welches einerlei ist, die Erfahrung, in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach diesen Begriffen, so sehe ich sofort eine leichtere Auskunft, weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Regel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben werden, mithin a priori voraussetzen muß, welche in Begriffen a priori ausgedrückt wird, nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen. Was Gegenstände betrifft, sofern sie bloß durch Vernunft und zwar notwendig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche sie zu denken (denn denken müssen sie sich doch lassen), hernach einen herrlichen Probierstein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungsart annehmen, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen. “

Immanuel Kant: AA III, 11[1], Kritik der reinen Vernunft Vorrede zur zweiten Auflage 1787, B xv-xvi[2]

Der Paradigmenwechsel zu Beginn der Neuzeit

Originalausgabe, Johannes Petreius, Nürnberg 1543

Die Idee, die Publikation von Nicolaus Copernicus', De Revolutionibus Orbium Coelestium 1543 habe sich noch in der frühen Neuzeit, in der Zeit zwischen 1500 und 1800, als mentale Revolution oder auch nur als wissenschaftlicher Paradigmenwechsel bemerkbar gemacht, ist in mehrfacher Hinsicht fragwürdig.

Protestantische wie katholische Wissenschaftler taten sich nachweislich letztlich leicht mit dem neuen Weltbild. Jesuitische Missionare gewinnen dank der genaueren Berechnungen, die sie mit Johannes Keplers Gesetzen durchführen können, im 17. Jahrhundert Einfluss an Chinas Hof. Auf der anderen Seite stellte man noch in Atlanten des 17. und frühen 18. Jahrhunderts man bis 1740, das heißt nach Isaac Newtons Gravitationslehre, im protestantischen Raum beide Weltbilder konfliktfrei nebeneinander dar. Man gewann mit dem kopernikanischen Weltbild eine Ausgangslage für genauere Berechnungen, kaum jedoch sehr viel mehr.

Die Naturwissenschaften spielten insgesamt vor der Industrialisierung eine marginale Rolle im wissenschaftlichen Gefüge. Weder waren sie auf dem Buchmarkt bedeutend, noch gelangten aus ihnen nennenswerte Impulse in die theologischen Debatten, die im Zentrum wissenschaftlicher und politischer Auseinandersetzungen standen. Noch etablierte man sie an den Universitäten, an denen regulär die vier Fakultäten Theologie, Jurisprudenz, Medizin und Philosophie unterrichtet wurden. Zur Philosophie gehörte „Naturphilosophie“, die den Bereich der heutigen Naturwissenschaften entsprach, doch weit mehr Anteil nahmen hier die Geschichte und die Philologien ein.

Äußerten sich Wissenschaftler in der frühen Neuzeit über die Revolution, die sie vom Mittelalter trennte, so sprachen sie in aller Regel nicht über die Naturwissenschaften, sondern über die Geschichtswissenschaft als neue Leitwissenschaft und über die Historia Literaria, die Wissenschaftsgeschichte, als die zentrale Neuerung. Mit ihr habe das Autoritätenwesen des Mittelalters geendet.

Im Großen und Ganzen wird den Naturwissenschaften erst ab den 1760ern die Rolle als epochaler Errungenschaft zugesprochen. Erst in diesem Prozess wird es in den 1780ern interessant, die Bedeutung des Wechsels vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild aufzuwerten zu einem mentalen und epochalen Umbruch.

Für das 20. und 21. Jahrhundert als wissenschaftsbasierter Epoche ist es relativ plausibel geworden, dass auf dem Gebiet der Naturwissenschaften der große Wandel stattfand, und dass er am markantesten in der „Kopenikanischen Wende“ stattfand. Damit scheint zusammenzuhängen, dass man heute gerne Camille Flammarions Holzstich aus seinem L'Atmosphère: Météorologie Populaire (Paris, 1888) für eine Abbildung mitten aus der Zeit der Wende erachtet.[3]

Einzelnachweise

  1. Kant, Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900ff, AA III, 11.
  2. Digitalisat der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
  3. Siehe für diesen Irrtum etwa - 2011 im Internet wieder aufgelegt - Peter Ruben, "Die kopernikanische Wende. Naturforschung und Revolution", in Philosophische Schriften, Online-Edition peter-ruben.de, herausgegeben von Ulrich Hedtke und Camilla Warnke. Berlin 2011, S. 10. [1]

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